Die ersten Zeugnisse menschlicher Kultur sind Gegenstände wie Messer, Speer und Axt, folglich alles Geräte, die dem Erwerb und der Zubereitung von Nahrung dienen. Denn bevor unsere Vorfahren höhere, kulturelle Leistungen vollbringen konnten, mussten sie erst einmal ihre unmittelbaren Bedürfnisse wie Hunger und Durst befriedigen. Und wer schon mal von seiner Frau mit knurrenden Magen zur Matthäus Passion gezerrt wurde, weiß sicher: Erst kommt das Fressen, dann der Choral. Doch durch die stete Verbesserung seiner Jagd- und Gar-Methoden hatte der Mensch irgendwann Zeit und Muse, sich bei vollem Magen im leuchtenden Schein eines prasselnden Feuers und mit dem Kohlestift in den fettigen Fingern den höheren Künsten zu widmen. Man könnte auch sagen: Das Paläolithikum war die durchaus gesegnete Zeit, in der technische Entwicklung und zivilisatorischer Fortschritt harmonisch Hand in Hand gingen. Heute herrscht, wie Theodor Riesenschmarrn Adorno und Max Murxheimer in ihrer Frankfurter Kochschule lehrten, die Dialektik der Aufwärmung. Der Mensch benutzt technische Errungenschaften primär zur Perfektionierung von Gewalt und zur Barbarisierung der Esskultur. 1945 wurde zum Beispiel der Mikrowellenherd erfunden, und wir wissen, welch schwerwiegenden Ereignisse in diesem Jahr die menschliche Zivilisation erschüttert haben: Hiroshima und die Geburt von Mireille Mathieu!
Will man also die Ursprünge der menschlichen Kultur ergründen, sollte man ganz zu den Wurzeln unserer Spezies zurückkehren und die Essgewohnheiten unserer Urahnen erforschen. Was man dabei zu Tage fördert, ist leider erst einmal eher unappetitlich, denn die wichtigsten Hinweise hierzu liefert die sogenannte Koprologie, die Wissenschaft vom versteinerten Kot. Es ist bedauerlich, aber neben ein paar Knochen und Steinsplittern sind paläontologische Exkremente die einzige Hinterlassenschaft, die Rückschluss auf den steinzeitlichen Speiseplan geben. Doch wahrlich, die Beschäftigung mit dieser schmutzigen Materie lohnt sich! Im fäkalen Erbe unserer Vorfahren finden wir Überreste der gesamten Fauna der mittleren Steinzeit: Mammuthaar, Urpferd-Fell, Früh-Frosch-Knochen, Steinzeit-Seeigel-Schalen… Schlussfolgernd: Sie haben eigentlich alles verzehrt, was Beine hatte – mit Ausnahme des Tisches, der noch nicht erfunden war. Und das passt ja auch gut zu dem Bild, das wir uns von unseren Urverwandten haben: wilde, grobe Gesellen, in struppige Felle gehüllt, die mit fetttriefendem Mund und halb verfaulten Zähnen unter tierischem Grunzen halbrohes Fleisch in sich reinstopfen. Ein englisches Rugby-Team in einem argentinischen Steakhaus, so in etwa.
Nun frage ich Sie: Tun wir unseren Vorfahren damit vielleicht Unrecht? Jüngst fand ich in einer Zeitschrift für Frühgeschichte einen Bericht über eine Höhlen-Behausung, die übersät war mit tausenden Austernschalen, und ich dachte bei mir: AUSTERN? Gelten diese Meeresfrüchte heute nicht als Delikatesse? Und sind bei genauerer Betrachtung Froschschenkel oder Seeigel nicht auch Gaumenfreuden, deren wahrer Wert sich nur Kennern der gehobenen Küche erschließt? Mit einem Mal trieb mich die Frage um: War das Nahrungsverhalten des frühen Homo sapiens wirklich so wahllos? Oder lässt die große Bandbreite von Nahrungsmitteln nicht eher auf eine hoch differenzierte Küche schließen? Unvoreingenommen betrachtet gibt es keinen wissenschaftlich legitimierten Grund anzunehmen, warum der Steinzeit-Mensch sein Fleisch blutig und roh verzehrt haben soll, wenn er es auch fein geschabt mit Limette und einem Hauch Muskat hätte genießen können. Vielleicht sind die Ursprünge der Cuisine Supérieure viel tiefer im Dunkel der Zeit verwurzelt als bisher angenommen? Vielleicht war gar der Wegbreiter gehobener Kulinaristik nicht etwa ein Paul Bocuse, sondern ein grunzender Halbaffe mit Pferdegebiss? Diese Fragen mögen Ihnen vielleicht absurd erscheinen, doch für einen Gourmet meines Kalibers war die Lösung dieses Rätsels von ungemein großem Interesse. Und sind es nicht oft diese absurden Fragen, die zu den unsinnigsten Antworten führen?
Nach gründlicher Überlegung bin ich in das wunderschöne Städtchen Vallon-Pont-d’Arc im Südosten Frankreichs gefahren. Diese Gegend ist neben einem vorzüglichen Anislikör auch für seine einzigartigen, prähistorischen Höhlenmalereien bekannt. Die Chauvet-Höhle gehört zu den besterhaltenen Zeugnissen der Frühgeschichte. Manche behaupten gar, hier läge die Wiege der menschlichen Kunst selbst. Dort eingetroffen, begegnete ich Professor Gaston Briochlaise, Inhaber des Lehrstuhls für theoretische Küche am Institut für spekulative Ernährungswissenschaften der Fernuniversität Litje (Grönland). Ich war auf diese Zusammenkunft ungemein gespannt: Was hatte dieser große Mann nicht schon für die Wissenschaft geleistet! War es nicht Briochlaise, der mit seinem epochalen Werk „Prehistorical conception of dinner“ die völlige Bedeutungslosigkeit der Serviette in der Lebenswelt afrikanischer Ureinwohner endgültig nachweisen konnte? Wurden nicht durch seine schmerzhaften Selbstversuche aufgezeigt, dass durch gründliches Kauen die Schale der Kaktusfeige ohne Probleme mitgegessen werden kann? War er es nicht, der anhand der Bewegung eines Reiskorns in einem Topf kochenden Wassers auf 4000 Höhenmetern den jährlichen Niederschlag in den Schweizer Alpen berechnen konnte? Und hat nicht auch Briochlaise im Jahre 1984 auf dem „Berliner Kongress für angewandte Oologie?“ in einer legendären Tischrede sage und schreibe 1500 verschiedene Techniken, ein Ei zu kochen beschrieben? Dies führte damals zu einem umfassenden Paradigmenwechsel in der Eierkunde, obgleich nicht weniger als 23 Zuhörer aufgrund seiner ausdauernden Wortgewalt über den Tellern verhungerten. Dieser Mann ist ein Visionär! Auch wenn er in der Fachwelt eher als Spinner gilt. (Anmerkung: Die Oologie ist die Wissenschaft vom Ei. Sie zerfällt in drei Forschungsgebiete: der Speculo-Oologie, Circum-Momentum-Oologie und Lentaculum-Oologie. Also des Spiegel-, Rühr- und Frühstückeis.)
Unser beider Gedankengänge waren wie folgt: In jeder Höhle, auch wenn sie noch so primitiv gewesen war, muss es einen gesonderten Bereich gegeben haben, in dem der Steinzeitmensch seine Nahrung zubereitet hat, sozusagen eine Urform der Küche und diesen Ort wollten wir mit unseren eigenen Augen sehen! Im Eingangsbereich der Höhle fanden wir jene bereits erwähnten Malereien, mit wie viel Liebe und Freude zur Detailtreue hatten unsere Vorfahren ihre Welt hier festgehalten, aber zahlreiche dieser beeindruckenden Darstellungen geben den Archäologen immer noch Rätsel auf. Den Archäologen vielleicht, doch in unseren Augen waren diese Zeichnungen riesige Speisekarten, die in meterhohen Lettern auf die Wände projiziert wurden. Denn Briochlaise und ich betrachteten die Welt durch die unbestechliche Brille der Gastronomie, und deshalb war uns von Anfang an klar wie Kloßbrühe: Unsere Vorfahren haben sich nicht damit begnügt den Erfolg ihrer Jagdkunst zu verewigen, es ging ihnen nicht allein um den Mut des Jägers oder um die Schönheit der erlegten Tiere. Nein, gerade im hinteren Teil der Höhle, in der der Professor die gemeißelten Reste eines mesolithischen Dampfkochtopfs zu erkennen glaubte, wurde penibel die weitere Verarbeitung des Wildbrets abgebildet: Vom Auslösen der Knochen über die Methode des Garens bis hin zur Auswahl der Garnitur!
Wir waren stolz, bis zu 20 verschiedene Gerichte rekonstruieren zu können und brannten darauf, eines dieser Rezepte praktisch umzusetzen. Bedauerlicherweise spiegelte die Zutatenliste das Nahrungsangebot der damaligen Zeit wieder. „Stopfleber von Säbelzahnente“ wäre durch äquivalente Mengen rezenter Nachkommen ja noch improvisierbar gewesen, aber beim „Filet vom geflügelten Riesen-Langhaar-Nacktmulch“ erschien uns eine Nachbildung zu spekulativ. Der Veranschaulichung halber und um den aufmerksamen Leser zu befriedigen, habe ich mich dennoch entschlossen, eines der Rezepte zu präsentieren, schließlich passt es hervorragend in dieses Kompendium unmöglicher Gerichte! Der Professor und ich gaben dem Gericht den Namen: Ragout vom Mammut.
Mit einer großen Fackel senge man das Fell des Tieres vom Körper und entferne die Stoßzähne (Vorsicht: spitz!). Man tranchiere das Mammut in zirka 20 gleiche Teile. Zwischen Hüfte und Hochrippe befindet sich das winzige (circa 50 Kilo) Filet Mammuton: Es empfiehlt sich, dieses besonders zarte Fleisch als Hors d’œuvre vorne weg zu servieren – fein geschabt mit Limette und einem Hauch Muskat. Das Fleisch wird nun für die Dauer einer Eiszeit in einer Lake aus Salzwasser und Kräutern mariniert. Es empfehlen sich hierfür besonders Dino-Dill, Panzer-Kresse und Stachelborretsch. Anschließend wird alles in einem Vulkankrater scharf von jeder Seite angebraten und in einem Geysir mit mäßiger Aktivität pochiert?. (Beim Pochieren wird mit möglichst geringer Hitze gekocht. Wahre Meister-Pochierer schaffen es, wenige Grad über Raumtemperatur Gemüse zu garen. Leider dauert dieser Vorgang oft Monate.) Dauer: circa 20 Minuten pro 500 Gramm Mammut plus eine Woche. Gegen Ende der Kochzeit sollte etwas Gemüse für wenige Minuten im Fleischsud blanchiert werden. Im Frühling und Sommer eignen sich Riesenfarnsprossen, Urlauch oder Saurierampfer, im Herbst und Winter sind lagerfähige Feldfrüchte zu verwenden wie Mega-Möhre, Knollenblätterkohl oder Tote Beete. Diese Pflanzenkost gibt dem Gericht nicht nur eine gewisse Raffinesse, es sorgt auch für die nötigen Ballaststoffe, die der Mensch in seiner frühen Entwicklungsphase braucht.
Auszug aus dem Buch „Ragout vom Mammut: 12 aberwitzige Kochgeschichten“
Philipp Weber (Autor), Inka Meyer (Illustratorin)
Erhältlich im TreTorriShop, ISBN: 978-3944628219
Weitere Leseprobe: TreTorriVerlag
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