Fletscherismus

22. Dezember 2010, 16:30 Uhr

FletschernWissen Sie was „Fletschern“ ist? Fletschern?!! Das ist eine ganz besonders gründliche Kaumethode. Die geht zurück auf den englischen Ernährungsreformer Horace Fletscher, Ende des 19. Jahrhunderts. Jeder Bissen soll laut Fletscher 40- bis 50-mal mit den Zähnen bearbeitet werden. Eine echte Herausforderung. Naja, versuchen Sie doch einfach mal Zuckerwatte 50-mal zu kauen.

Heute wird nicht mehr gefletschert. Niemand kaut mehr richtig, weil sich keiner Zeit für das Essen nimmt. Wenn ich da an meine arme Mutter denke… Meine arme Mutter, die kann an Weihnachten Stunde um Stunde in der Küche stehen, schwitzen, schaffen. Geflügel stopfen, salzen, braten. Knödel reiben, rollen, formen. Rotkraut reiben, raspeln, dünsten. Und ist nun endlich die Gans unter Blut, Schweiß und Bratfett zu einem kulinarischen Meisterwerk vervollkommnet ­– ich möchte sagen, auf die höchste Stufe seines Gänse-Daseins gebracht worden – steht das Tier schließlich als mystische Verklärung eines Vogels auf dem Tisch. Schallt dann etwa ein Hosianna zur Ehren der Schöpferin zum Himmel? Wird da innegehalten, um die Maitresse de Cuisine mit Lobpreisungen zu überschütten? Pustekuchen. Sobald der Topf die Tischplatte berührt, fällt die Familie Weber wie eine Rotte Wildschweine über die Schüsseln her und tilgt das Dargebrachte innerhalb von Sekunden von Gottes Erdboden. Ein Schwarm Piranhas ist eine Weight Watchers Gruppe dagegen. Und wir reden hier nicht von einem fröhlichen Gelage. Nicht von einem wilden, bacchantischen Rausch. Nicht, von einem illustren Prassen den Jüngern des Lukullus gleich! Nein, wir sprechen von: hastigem Kauen, gierigem Schlingen, malmenden Mündern, misstrauischen Blicken. Kain erschlug Abel nicht zuletzt wegen des Gänsebratens! Und wenn mein Bruder, diese Natter, noch mal nach der letzten Keule schielt, dann werde ich zum Brutus! Ich hau dem verfressenen Aasgeier das Tranchier-Messer in den Hals!

Ich weiß auch nicht, woher das kommt. Als hätte uns die Mama immer eingetrichtert: Schnell schlucken, das schont die Zähne!

Aber hastiges Essen ist gefährlich. Wird die Nahrung nicht genügend zerkleinert und durchgespeichelt, führt das zu Verdauungsproblemen und Magengeschwüren. Gottseidank naht die Rettung: Slowfood. Das ist eine Bewegung, die sich auf langsames Essen konzentriert. Also: Schnecken und Schildkröten… Kleiner Witz, nein, die Grundidee von Slowfood ist: sich endlich wieder Zeit nehmen für die Nahrungsaufnahme! Es gibt Slowfood-Aktivisten, die essen kein Hühnchen, mit dem sie nicht mindestens drei Jahre zusammen gelebt haben. Seit 2002 Jahr gibt es sogar eine Slowfood-Weltmeisterschaft. Und wissen Sie was? Der Sieger steht bis heute noch nicht fest.

Da wird gekaut, dass selbst Horace Fletscher die Kinnlade runtergefallen wäre. Denn dieser sagt: „Die Natur wird diejenigen bestrafen, die nicht gründlich kauen“.

2 Kommentare

  1. Karin – 25. Dezember 2010, 17:00 Uhr

    …ach ja, das erinnert an die Weihnachten zu Hause. Nun ist es nicht mehr ganz so barbarisch, muss dran liegen das unser Lieblingsweihnachtsessen Hühnersuppe ist, die weckt anscheinend nicht ganz so atavistische Gefühle. :-)
    Frohes Fest
    Alles Liebe Karin

  2. Anna Reidinger – 16. Februar 2013, 13:30 Uhr

    Das erinnert mich an meine Gäste: du stehst den ganzen Tag in der Küche… das macht dir auch Spaß, die Gäste zu verwöhnen… wenn das Essen aber in 5 Minuten vernichtet wird, da fragt man sich schon: wo bleibt denn der Genuss?!

    Klasse! :-)

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